Weihnachtsgeschichte: Scheidung mit Stern

von Ruth Eder

„Halten sie ihre Ehe für gescheitert?“ fragte die Richterin. Sie war viel jünger und kesser, als man sich eine Familienrichterin vorstellte. Aus ihrem fransig geschnittenen, mahagonifarbenen Haar leuchtete wie eine Art Demo-Plakat diese golden glitzernde Strähne hervor. Rita fragte sich, ob das aufmüpfige Haarbüschel Relikt einer Weihnachtsfeier war. Oder ob die Richterin versuchte, damit ein Bisschen weiblichen Glamour gegen die graumäusige Männerwelt bei Gericht zu setzen.

Und wie grau diese Welt war. Besonders an einem dämmrig-trüben Nachmittag wenige Tage vor Weihnachten. Fünfter Stock in einem Betonklotz in der Pacellistraße. Draußen Schneematsch, wenig Licht. Außer in den Schaufenstern. Nahe am Eingang zum Gerichtsgebäude hatte ein Maroniverkäufer seinen Stand aufgebaut.

Rita schluckte. Sie hatte die Beine übereinander geschlagen und die Hände über dem oberen Knie gefaltet. „Ja, ich halte meine Ehe für gescheitert, weil es nie eine richtige Ehe war,“ sagte sie viel zu laut und zu deutlich. Wie immer, wenn sie Aufgeregtheit zu verbergen suchte. Der Satz plumpste unelegant auf den gebohnerten Linoleum-Boden und blieb liegen. Niemand sagte etwas.

Sie wollte Klaus nicht anklagen. Nicht hier, überhaupt nie mehr. Es hatte keinen Sinn. „Ich hatte wohl etwas konventionellere Vorstellungen von einer Ehe als mein Mann“, schwächte sie eilfertig ab. Sie konnte es einfach nicht lassen, sich anzubiedern. Kein Rückrad, dachte sie, wenn ich Ablehnung spüre, knicke ich jedes Mal ein.

„Nehmen Sie das bitte zu Protokoll“, sagte die Richterin sachlich und mit ausgesuchter Höflichkeit zur Beisitzerin. Ritas Blick wanderte hinüber zu Klaus. Er saß, ausnahmsweise in Sakko und Bügelfalte statt in Jeans und Turnschuhen, neben seinem Anwalt. Auch Klaus hatte die Beine über einander geschlagen und die Hände über dem oberen Knie verschränkt. Auf seinem Handrücken bemerkte sie ein paar bräunliche Flecken wie Sommersprossen, die früher nicht da gewesen waren. Die Flecken rührten sie. Sie machten ihn verletzlich.

Wir sitzen in seltener Einigkeit genau auf die gleiche Art da, dachte Rita, in typischer Abwehrhaltung. Man merkte, dass sie sich zu viel mit Psychologie beschäftigte. Der Anwalt neben Klaus in schwarzer Robe, ein makelloser Hemdkragen aus teurem Leinen schaute hervor, der maßgeschneidert um den Hals schloss wie aus Gips. Bestimmt hatte das Hemd auf Bauchhöhe links ein eingesticktes Monogramm. Würdevoll, betulich und etwas zu fett erinnerte er sie unwillkürlich an ihren Schwager, Klausens seriösen Bruder. Nach Weihnachten würden beide mit Sicherheit noch etwas fetter sein.

Klaus mied ihren Blick. Er hatte diese Scheidung nicht gewollt, auch wenn sie seit längerem nicht mehr zusammen lebten. Rita lugte zu ihrem Anwalt, rechts neben ihr. Er blätterte völlig abwesend in seinen Akten. Die vorliegende Sache war für ihn abgeschlossen. Der nächste Scheidungsfall wartete schon vor der Tür. Amtsgericht München, Familiengericht: Scheidungen wie am Fließband. Unten im Schmuddelwetter am Promenadeplatz waren Passanten an ihr vorbei gehastet, als ob nichts wäre. In den Eingängen der Kaufhäuser drängten sich die Menschen, sie kauften wie verrückt und dabei endete heute ihre Ehe. Hier oben, im fünften Stock tobt das Schicksal, dachte Rita und schräg vis à vis protzt der „Bayerische Hof“ im Weihnachtsoutfit. Wer weiß, wie viele frisch Geschiedene da heute noch zum Essen oder auf einen Drink gehen. Das gehörte schon irgendwie zum guten Ton. Eine Henkersmahlzeit, die man aparter weise erst nach der Hinrichtung zu sich nahm.

Nicht weit vom Gericht, in der Mandelstraße, fanden die dazu gehörigen Hochzeiten statt, auch am Fließband, Orgelmusik extra zu bezahlen. Für Scheidungen gab es bislang keinen Soundtrack. Jede zweite Ehe in deutschen Großstädten scheiterte. Zweiundfünfzig Prozent Single-Haushalte gab es in München. Sie hatte gerade für eine Reportage recherchiert und war im Bilde. Ihr Leben war ein Fall von vielen. Wie banal.

Sie fühlte sich beinahe ruhig und entschlossen. Es hat eben nicht gepasst mit uns, dachte sie. Hier wurde nun halt der überfällige Schlussstrich gezogen. Plötzlich tat ihr das Herz weh.

„Halten Sie ihre Ehe für gescheitert?“ wandte sich die Richterin mit der Demo auf dem Kopf jetzt an Klaus. Klaus räusperte sich. In Rita meldete sich der Impuls, ihm irgendwie zu helfen. Immer noch. Komisch.

„Ja,“ sagte Klaus gedehnt, “ Ja. Inzwischen halte auch ich sie für gescheitert“.

Ihr Herz tat erneut weh. Nicht mehr ganz so sehr wie früher, sanfter. Aber sie spürte das gleiche Ziehen. Schmerz sitzt tatsächlich im Herzen, so wie sie es in diesen Schlager-Schnulzen besingen, dachte sie. Nur dass ihn von Außen keiner bemerkt. Klaus schaute der Richterin ernst ins Gesicht. Ob ihm auch das Herz weh tat? Man sah es ihm nicht an. Unter normalen Umständen würde die Richterin ihm gefallen, dachte Rita. Er mochte selbstbewusste Frauen, solange er nicht mit ihnen verheiratet war. Er würde mit ihr flirten, wie er mit jeder flirtete.

Die beiden Anwälte hatten vorhin beim Warten an der Tür über die Richterin gewitzelt: Klassefrau, Vorzeigevamp des Gerichts, Freude im grauen Gerichtsalltag und ähnliche Männerscherzchen. Die Richterin war sehr souverän über die neckische Bemerkung von Klaus´ Anwalt hinweggegangen, wonach man bereits vor der Tür gespannt gewesen sei, welche Haarfarbe sie wohl heute trage.

Rita bemerkte erstaunt, dass sie Hunger hatte. Typisch. Sie schaute verstohlen auf die Uhr. In solch einer Schicksalsstunde war Hunger irgendwie unangebracht. Fast vierzehn Uhr. Ihre Tochter war schon von der Schule zu Hause. Sie würde bald heimfahren in ihren Vorort durch den grauen Wintertag in ihr mit vielen Lichterketten geschmücktes Haus und dort würde dann alles weitergehen wie immer. Ohne Klaus, wie seit längerem. Als sie auf die Uhr schaute, bemerkte sie auch auf ihrem linken Handrücken ein paar bräunliche Flecken wie Sommersprossen. Sie wunderte sich, dass sie die bisher nie zur Kenntnis genommen hatte. Weder bei sich noch bei Klaus. Ob Abschiede den Blick schärften?

Klaus räusperte sich. Rita erschrak wie damals in der Schule, wenn sie nicht aufgepasst hatte. Klaus räusperte sich in letzter Zeit oft, auch wenn er mit ihr telefonierte. Er hatte die Scheidung nicht gewollt. Dies war Scheidungstermin Nummer sieben. Unmittelbar vor jedem der früheren hatte er sich sicherheitshalber auf Dienstreise begeben. Sie war es, die diesen Schlussstrich angestrebt hatte. Sie würde erst später wissen, ob der Entschluss richtig war.

Die Richterin stand auf. Alle anderen auch. Ritas Atem stockte.

„Im Namen des Volkes: Ich erkläre hiermit die Ehe zwischen den Parteien für geschieden.“ Das war`s, sagte es in ihr. Sie hörte es ganz deutlich. Sie sollte wohl besser niemandem gestehen, dass sie manchmal Stimmen hörte.

„Ja, ist das denn jetzt schon rechtskräftig?“ hörte sie sich dümmlich fragen. Ihre Stimme klang hoch und quäkend. Grässlich. Die Richterin lächelte herablassend. Ritas Anwalt ebenfalls. Auch Klaus` Anwalt lächelte maliziös. Kein Wunder, dass sich sein Mandant von dieser Pute scheiden ließ.

„Sie können umgehend das Aufgebot bestellen“, höhnte Ritas fischäugiger Anwalt und kicherte. Er hatte rotblondes Haar und war sehr erfolgreich. Ganz wie Boris Becker, nur älter. Sogar die farblosen Wimpern stimmten. „Aber vielleicht warten sie wenigstens noch die Feiertage ab…“

„Könnte ich vielleicht gleich hier meinen Mädchennamen wieder...“ Es hörte sich voreilig, überflüssig und aufdringlich an. Aber Rita wollte es hinter sich bringen. Sie wusste, dass Klaus sie in diesem Augenblick hasste.

„Nein, den können sie erst, wenn Sie das Urteil in Händen haben, ändern lassen, “ belehrte die Richterin sie mit professioneller Nachsicht. Rita beneidete sie um ihre Selbstsicherheit.

Sie wusste, dass sie Klaus mit der Namensänderung traf. Er war schon bei der Hochzeit beleidigt gewesen, als sie auf den Doppelnamen bestanden hatte. Er fasste das als Distanzierung auf. Ausgerechnet er, der immer so um seinen Sicherheitsabstand besorgt war. Und er wurde nicht müde, sich über Emanzen mit Doppelnamen zu mokieren. Ob die schicke Richterin auch einen trug?

Rita stand auf, weil erneut alle aufstanden. Ihr Herz tat weh und ihr Magen knurrte. Hoffentlich hatte es keiner gehört. Die Szene erinnerte sie an die TV-Serie „Ehen vor Gericht“, in der sie einmal in ihrer Studentenzeit mitgespielt hatte. Damals war ihr alles viel realer erschienen als heute.

Die Anwälte und Klaus verließen den Gerichtssaal. Warteten galant an der Tür, um sie vorgehen zu lassen. Für das Honorar konnte man schließlich auch ein gewisses Benehmen erwarten. Der Saal war eher klein. Die Atmosphäre sollte wohl etwas Familiäres haben, schließlich war das hier ja auch ein Familiengericht.

Im Flur verabschiedete man sich mit ausgesuchter Höflichkeit. Hände wurden geschüttelt, als ob irgendjemand einen Sieg davongetragen hätte. Alle lächelten unentwegt. Ritas Anwalt versicherte Klaus einmal mehr, dass er seinem Golftrainer in Kitzbühel zum Verwechseln ähnlich sehe. Dann eilten die Herren in ihren schwarzen Roben zum nächsten Termin. Was man über die Feiertage so plane? Beim nächsten Termin stand jedenfalls eine lukrative Luxus-Scheidung an.

„Beschissener Job, am Scheitern anderer zu verdienen,“ sagte Rita im Lift. Sie fragte sich, warum Klaus sie immer so unsicher machte und zu dümmlichem Blabla animierte. Wahrscheinlich war es sein Schweigen, das sie so schwer ertrug.

„Gehst du mit mir noch was essen?“ fragte Klaus. Er konnte manchmal ziemlich konventionell sein.

„Lieber nicht, ich finde eine Scheidung ist kein Grund zum Feiern. Es ist einfach nur traurig“, sagte sie und war stolz auf ihre Konsequenz. „Aber ich fahre dich gern noch zum Büro“. Sie war entschlossen, den Schmerz, der in ihr aufstieg, zu unterdrücken. Ihre Augen brannten. Sie hatte das alles ja schließlich so gewollt. Aber diese Endgültigkeit...

Unten auf der Straße mussten sie an der Fußgängerampel über den Zebrastreifen. Sie hängte sich bei ihm ein wie früher. Spürte das dicke, weiche Tuch seiner Jacke. Es fühlte sich nach Klaus an. Es roch auch nach Klaus. Teure Jacke, teures Rasierwasser. Selbstverständlich in den Marken, die gerade angesagt waren. Er war kaum mehr größer als sie. Ob er schon schrumpfte?

Knapp vor ihnen bremste ein dunkler Benz. Hinter der Windschutzscheibe wackelte ein quietschroter Santa Claus. Der Fahrer machte wütende Stummfilm-Grimassen. „Vorsicht, sonst werden wir am Ende noch zusammengemanscht“, versuchte sie zu scherzen.
„Aber jetzt beerbst du mich doch gar nicht mehr“, erwiderte Klaus.
„Ich habe gemeint, dass wir beide zusammen gemanscht werden, nicht du allein,“ entgegnete sie, aber der eisige Wind riss ihr die Worte von den Lippen. Der Verkehrslärm übertönte sie außerdem.

Es war wie immer. Sie konnten sich nicht verständigen. Sie hatte eigentlich nur diesen kleinen, kitschigen Gedanken gehabt: Am Scheidungstag kurz vor Weihnachten im Tod vereint, oder so ähnlich. Und er hatte was vom Erben verstanden. Er sagte du und ich. Sie sagte wir. Selbst jetzt, wo es endgültig zu Ende schien. Der ewige Jammer zwischen Mann und Frau. Es führt einfach keine Brücke zum anderen, dachte sie und ihre Kehle wurde eng.

Sie waren an Ritas rostigem Golf angelangt. Sie parkte ganz nahe am Gericht mitten in der Innenstadt.

„Du hast natürlich wieder einen Parkplatz gefunden“ stellte er fest. Sie wusste, dass er diesen Parkplatz als weiteren Beweis ihrer rücksichtlosen  Durchsetzungskraft ansah, der er sich nicht gewachsen fühlte. Es war wie immer. Es führte kein Weg zu ihm hin.

Sie kurvten schweigend durch die Innenstadt. Im Wagen war es kalt. Am Rückspiegel baumelte ein hässlicher Plastikengel mit schlaffen Stoffflügeln, den ihr ihre Tochter zum ersten Advent geschenkt hatte. Ihr Atem machte die Scheiben blind. Ihr gemeinsamer Atem. „Es ist so traurig,“ sagte sie leise. „Jetzt hast du doch, was du wolltest“, sagte er. Sie hatte eigentlich ihn gewollt und nochmals ihn. Als sie die Hoffnung verloren hatte auf ihn, hatte sie wenigstens die Scheidung gewollt. „Du willst eben immer was“, sagte er. Sie spürte die Ablehnung in seiner Stimme. Er war jetzt so abweisend, dass sie es kaum ertrug. Wie sie seine Distanz nie ertragen hatte. „Du kannst mich hier rauslassen,“ sagte er kurz vor dem Büro. “Also, Servus...und grüß mir die Kleine...“

Sie stand im Stau und sah ihm durch das schmutzige Seitenfenster ihres Wagens nach: Die Hände lässig in den Jackentaschen, die Hüften darunter, das wusste sie, schmal. Beim Gehen setzte er die Hacken seiner Schuhe energisch auf, bewegte sich sehr bewusst. Er wusste, dass er sexy war. Breite Schultern, etwas zu gedrungen vielleicht, Bauchansatz schon, die Surfer-Mähne bis über den Kragen. Sie war jetzt beinahe ganz grau. Rita erinnerte sich plötzlich, wie erstaunlich weich sich seine Locken anfühlten. So wie er jetzt aus ihrem Leben davon stolzierte, so war er damals hinein stolziert vor 14 Jahren. Einer, der spielte, was immer er auch tat. Mann und Kind. Die Mischung, auf die sie flog.

Das Spiel war vorbei. Klaus würde gleich um die Ecke verschwinden. Ihre Kehle schmerzte. Die Straße verschwamm vor ihren Augen. Sie legte entschlossen den Gang ein. Gelb, grün. Sie wollte nicht mehr um ihn weinen.

Da sah sie den Stern. Sie stoppte. Hinter ihr hupte es, aber das war ihr egal. Groß und leuchtend stand der Stern über den graubraunen Häuserfassaden am Sendlinger Tor. „Wie der Stern von Bethlehem“, dachte Rita. Auch Klaus blieb stehen. Er bemerkte den Stern also auch. Er zögerte. Dann kam er zurück zu ihrem Golf.

Sie kurbelte das Fenster herunter. Es quietschte.
„Hast Du den Stern gesehen?“ fragte er.
„Ja“, sagte sie.
„Vielleicht ist das ein Zeichen,“ sagte er.
„Ja“, sagte Rita. „Vielleicht weist er uns den Weg?“.
„Wir sind doch nicht die zwei Weisen aus dem Morgenland“, konterte er.
„Offenbar leider nicht,“ sagte sie und schwieg. „Und Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“ dachte sie.

„Kommst du an Heiligabend nicht doch lieber zu uns?“ hörte sie sich plötzlich fragen. Sie hatten eigentlich vereinbart, dass er das Kind am ersten Weihnachtsfeiertag zu sich holen würde. „Die Kleine rechet insgeheim mit dir.“

„Und du?“ fragte er. Als er ihr in die Augen sah, war ihm, als sehe er darin den Stern leuchten.
Hinter ihnen schwoll das Hupkonzert an.

„San sie no bei Trost? Sie können doch ned mitten auf der Straß…“ brüllte jemand aus dem Autofenster.
„Sehen sie denn diesen unglaublichen Stern nicht?“ Rita stieg aus. Oberhalb der Häuserfassaden, die sich wie ein Scherenschnitt vom Himmel abhoben, stand doch der Stern.
„Welcher Stern? San sie besoffen?“ schnauzte der Mann.
Als sie aufblickten, war kein Stern mehr zu sehen.

Diese Geschichte ist in dem dtv-Band Nr. 21026 „Manche mögen`s weihnachtlich - von Weihnachtssucht und Weihnachtsflucht“, enthalten. Jetzt das Buch bei Amazon kaufen.